Samstag, 28. Dezember 2002

  Das Wort,
der Satz,
die Sprache,
zerstückeln das Sein.

Der Lehrer tadelt den Schüler:
"Warum hast Du nicht getan, was ich gesagt habe?"
Der Schüler:
"Gesagt ist nicht gehört.
Gehört ist nicht zugehört.
Zugehört ist nicht verstanden.
Verstanden ist nicht einverstanden.
Einverstanden ist nicht getan."

Worte machen Wirklichkeit,
verzerrbilden Realität,
gaukeln Wahrheit.
Das Knistern beim Aufschlagen der ersten Seite,
die Schwere und Rauheit des Papiers,
der Geruch aus dem Inneren
des Buches,
haben mehr Wahrheit
als alle seine Worte.
 

  Es zieht.
Ob das daran liegt, dass die Tuer, neben der ich sitze,
offen ist?
Nein, denn da ist ja gar keine Tuer.
0,84 cm rechts neben mir ist ein 1,5x1,5 m
grosses Loch, und hinter diesem Loch nur Luft.
Sehr viel Luft.
Duenner werdende Luft,
mit jedem Hoehenmeter, den das kleine Flugzeug
weiter in den Himmel steigt.
Sicherheitsgurte?!?
Und dann sagen wir den Wolken Hallo,
und ich verabschiede mich von dem kleinen Flugzeug,
um allein weiter zu fliegen.
 

 Es summelt.

Die Menge einer weit entfernt geborenen Idee
spielt mit dem Kathodenstrahl, der
zu zwei Dritteln der Nichtschlafzeit
meine Wirklichkeit auf ein Stück Glas -
fast quadratisch, kühl - malt.
Unerwartet
ein Ton
ein leiser, mittelhoher, klarer Ton.
Die links und rechts vorne,
links und rechts hinten
und unten
aufgestellten Stromschallwandler
sind abgeschaltet.
Der Ton kommt
unbeirrt
aus dem Stück Glas.
Neue URL.
Wieder ein Ton,
höher, fast schrill, etwas begehrend.
Neue URL.
Tiefes Summen. Erhabenheit. Alter.
Weiter.
Diesmal Stille.
Nein, leises,
behutsames Singen,
wie ein fernes Geradenochsein.
Welten
überall.
 

  FM4 - o Gott, das erinnert an eine mindestens sieben Jahre zurück liegende Geschichte, nicht mit, sondern in Bezug auf die mittlerweile bei FM4 wirkende Eva Umbauer - damals noch im ö3-Nachtprogramm mit einer sehr bemerkenswerten Moderation aktiv. Also, der Punkt war, dass die dargebotene Musik durchaus sehr brauchbar war, aber keine Chance hatte gegen die glücklicherweise ergiebigen Passagen dazwischen, bestimmt von Evas Stimme.
Eine Stimme, der man in hypnotischer Faszination lauscht, egal was sie gerade erzählt und welcher Sprache sie sich bedient. Und irgendwann wird dann mangels damaliger Internetverfügbarkeit im Telefonbuch recherchiert - gegen Mitternacht - und tatsächlich Telefonnummer und Adresse gefunden. Und dann doch tatsächlich das Motorrad gestartet, der Helm aufgesetzt und dort hingefahren - kurz nach Mitternacht. Und dann ist auch noch das eigentlich Sprechanlagen-gesicherte Haustor zufällig nur angelehnt, und es wird geöffnet und die Stiegen bis zum passenden Stockwerk hinaufgegangen.
Und dann wird vor der Wohnungstür gestanden, und,
gerade noch rechtzeitig,
aufgewacht aus der Stimmen-Hypnose,
und wie ein geweckter Schlafwandler
eilends der Heimweg angetreten.
Gibt es moderne Sirenen?
Und bis heute kein Bild gesehen
von der Stimme.

 

 Und wieder Schnee

Nachdem die Flockenwesen
vor ein paar Tagen
das Innere des Vierradblechfonds
durch die wischerverschonte Scheibe
in Augenschein genommen,
und mich solcherart besucht hatten,
beschloss ich nun,
Samstags,
das Innere des rosa Flügelblechs
zu verlassen, und
himmeltauchend,
die freundliche Einladung der Flockenwesen
anzunehmen,
sie bei ihrer Wolkenmutter
zu besuchen.
Tausendfaches Umschwirren
und Beströmen
und Flockenliebkosen.
Schwebend getragen
von fliegenden Eiskristallen.
Wolken sind gute Gastgeber.
 

  Nein, nicht nur falsch gerochener Hohn,
auch noch fehlgeleitete Unterstützung
desselben.
O Schreck, das tut Schmerz.
Ein wortgewaltiger Disput Lem vs. Brunner
wär natürlich schon recht spannend,
nur machen sie uns wohl die Freude nicht
und es ist hier auch nicht so ganz
der Platz dazu.
Lem als mittelmäßigen SF-Schreiber zu bezeichnen,
mag durchgehen,
aber es dürfte schwer sein, einen intelligenteren
und witzreicheren Autor zu finden, der sich
intensiv mit der SF-Problematik
auseinander gesetzt hat.
Lems Kyberiade gilt zu Recht als unübertroffene
Sammlung gesellschaftskritischer Parabeln,
deren Schlagkraft allerdings erst dann
voll zur Geltung kommt, wenn man
Entstehungszeit-, Ort und politischen
Hintergrund dieses Geniestreichs kennt.
Ergo: Wer höhnen will, der soll,
aber nicht mit Trurls Worten.
Ach ja, und der Schockwellenreiter.
Wenn man die Mainstreamer-
Fließbandromane von Brunner kennt,
fällt es schwer zu glauben, dass
der obige Geniestreich aus seiner Feder stammt.
Den unglaublichen Weitblick, den Brunner
mit dieser Story bereits 1975 bewiesen hat,
kann man eigentlich nur erklären, indem
wir davon ausgehen, dass ihm der gute
Wells seine Zeitmaschine geborgt hat.
Schockwellenreiter - zweifellos das
treffendste aller Web-Pseudonyme -
nur leider schon vergeben...
 

 Pazifistenselbstzweifel

Wie bleibt man als Anti-Militarist glaubwürdig?
Zum Beispiel, indem man den Zivildienst wählt.
Bei Militärparaden an Gegendemos teilnimmt.
Keinen Fernseher von Thomson kauft,
weil der Multimilliarden mit Waffentechnik macht.
Sein Kreuzerl beim Abfangjäger-Volksbegehren macht.

Und:
Die freundliche Einladung freundlicher
tunesischer Militärs,
im nächsten Februar
deren viermotorige Großraum-Flieger
und riesige Transporthubschrauber
mitsamt deren Kerosin
zum Fallschirmspringen zu benutzen,
dankend, aber bestimmt ablehnen.

Hart, aber interessant, zu erkennen,
wo die persönlichen Grenzen sind.
 

  Nicht einmal 70.


Kilometer.
In einer endlosen Stunde.
Wenn sich die Außenwelt auf wenige Meter
jenseits einer wischerliebkosten Scheibe beschränkt,
weil der diesseits der Scheibe liegende Fond
des durch das Dunkel taumelnden Vierradblechs
längst zu einem wesentlichen Teil
der Innenwelt geworden ist,
dann spielt der Geist
purzelbäumige Gedanken.
Die wie aus einem sich ständig nähernden
und doch unerreichbaren, winzigen Tunnel
auf mich zuströmenden Schneeflocken -
es könnten schon ein paar Tausend
in jeder einzelnen Sekunde sein -
werden,
kaum, dass sie der Aufsicht
ihrer Wolkenmutter entkommen sind
und ein paar tanzende Freifallminuten
genießen durften,
von den unbarmherzigen Wischern
meiner Scheibe daran gehindert,
meinen Unmut durch Verdeckung
des letzten bisschen Außenwelt


zu erwecken,
indem sie einfach so
aus ihrer Existenz gewischt werden.
6000.
Mehr als sechstausend verschiedene Formen,
also Individuen, von Schneeflocken gibt es.
Und alle werden sie weggewischt.
Einfach so.
Ich drehe die Wischer ab.
Und bewundere die Flockenwesen.
In der Dunkelheit.

 

  160.
Kilometer.
In nur einer Stunde.
Graue Asphalthorizontansicht
im Leitplankenkäfig zwischen
zwei grauen Städten
unter grauem Himmel
auf einem fahrenden Polster
hinter grauem Blech.
Schnee
weit draußen,
wo die Hügelhäupter


den Himmel berühren.
Wie es wohl ist,
zu sein
dort ganz ganz hinten
an dieser dünnen Linie
wo die obersten Eiskristalle
der fernen Schneedecke
gerade noch der
dahinter liegenden
Unendlichkeit entkommen.


Das Brummen an meinem
Herz ist nicht Emotion,
sondern der Vibracall
meines kleinen roten
Elektromagnetismus-
Umsichwerfers, der aus
dem Dunkel seines
Hemdtaschenrefugiums
nach Aufmerksamkeit ruft.
Und es ist Freude.
Denn es ist die Marion,
die verkündet, samt Mann
mit zum
Hinunterhineintauchenfliegen
aus dem rosa Flugzeug
nach Zell am See zu kommen.
Viele bunte Schirme
unter dem gnädigen Blick
des Großen Glockners.
Gut.
Sehr sehr gut.


 

 Introduktionierung

Was, ihr Bleichlinge kennt Trurl nicht?
Es scheint, als wäre einer der
biospezifischen Schaltkreise meines
Holophasenlokalisators abermals zum
Opfer dieser tückehaften
elektrischen Mäuse geworden, die da
seit Wochen bis in die
ölverschmiertesten Winkel meiner
Kyber-Werkstatt vordringen, um dort
ihr kurzschlussdräuendes Unwerk
zu verrichten.
So kann es denn geschehen sein,
dass ich auf meinen ungezählten
Reisen durch die kosmischen Tiefen,
Höhen und Breiten ausgerechnet den
Euren Planeten überlichtschnell
passiert habe
und niemand von der Existenz des
gewaltigsten aller Kyber-Konstrukteure
erfahren hat.
Doch kann der Intellekt einer
Lebensform, die aus weichbleicher,
qualliger Substanz besteht,
und ihre Kapazitäten auflädt, indem


sie sich allerlei einst Lebendiges über
eine seltsam geformte Körperöffnung
einverleibt - anstatt sich wie
vernünftige Leute an schwirrenden
Elektronen und schmierenden Ölen
zu erquicken -
kann eine solche Lebensform denn
überhaupt erfassen, was es bedeutet,
etwa eine Maschine zu konstruieren,
deren hohe Aufgabe darin besteht, alles
erschaffen zu können, was mit dem
Buchstaben ?n? beginnt?
Unwissenheit schützt vor Trurl nicht,
weshalb er seine unversiegbare
quantencomputergesteuerte
Identitäten-Pluralität
nunmehr
den Innenwelten
der Wortwerkstättler
anzuvertrauen gedenkt.
 

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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