Samstag, 28. Dezember 2002

 ZEIT

Der mit dem Westhorizont verschmelzende Gasball
klopft der von feinsinniger Stille durchdrungenen Landschaft
auf die Schulter
und gewährt dem Fluss der Zeit einen Aufschub.
Plötzlich endet das Ticken des Sekundenzeigers
und weicht einem Kontinuum aus Unvergänglichkeit,
das kein Vorher und Nachher kennt.
In dieser Einheit vergeht die rote Sonne im Dunkelgrau des Horizonts
und nimmt die Zeit mit in das Vergessen der Unterwelt.
Gefangen von diesem fortwährenden Augenblick
besteigen wir das Flugzeug
und streben zu einem Himmel, der noch überlegt,
wie viele Farben er für uns bereit halten wird.

Und dann beginnt die Zeit wieder zu fließen,
rückwärts,
denn die Sonne steigt glutrot
aus ihrem dunkelgrauen Grab,
entflieht dem Abgrund des Westens
und strebt zurück zur Helle des Südens.
Erst halb der Dunkelheit entflohen,
verharrt sie
und taucht die Welt in Rotviolett.


Dort, wo das Nachtblau des Himmels
mit dem Rot der halb wieder aufgegangenen Sonne verschmilzt,
liegt ein Streifen aus nicht nennbarer Farbe
und schenkt dem Blick eine Ahnung von Unendlichkeit.
Dies vor Augen verlassen wir das Flugzeug
und lassen uns tragen von einer Welt
aus Licht, Luft und wieder fließender Zeit.



 

  Die verchromte Lenkstange des Motorrades,
mit dem ich gerade die Luft zerteile,
wird von zwei metallischen Klammern fixiert,
die an ihrer Oberseite je zwei Schrauben
besitzen, damit man den Lenker,
so man seiner überdrüssig werden sollte,
demontieren kann.
Um die glatte Einheit der Klammern
nicht mit der stumpfen Kantigkeit
der Schrauben zu stören,
wird jede einzelne mit einer kleinen,
leicht konvexen, gleichfalls verchromten
und von irgend jemandem liebevoll
polierten Abdeckung davor bewahrt,
den Unmut des Betrachters zu wecken.
In diesen Abdeckungen spiegelt sich nun
eine Wolke.
Klein, weiß, fern und umrahmt vom Blau
des sie tragenden Himmels,
multipliziert sie die Größe der mir
bewussten Welt nicht nur mit dem von ihr
eingenommenen Volumen, sondern mit
der Mächtigkeit all der Luft,
in der zu schweben sie die Freiheit hat.
Plötzlich ist dieser gesamte Raum in mir,
und ich kann ihn erfassen als wäre ich
eine mit diesem Raum gefüllte und an der
Innenseite mit Sinneszellen
besetzte Hohlkugel.
Darin herrscht Klarheit und Weite
und so viel Erfülltheit,
dass es keine Frage nach dem
Außerhalb gibt.
 

 Abendspaziergang

Die Kunst des „es trotz des Vorübergehenlassenkönnens doch erlebt zu haben“.
Der dunkelgelb beleuchtete Rand des Daches einer Tankstelle harmoniert eigenartig mit dem sanften Grauviolett des dahinter liegenden Himmels. Darunter ein rot beleuchteter Rand, der die Szene verstärkt, und sie irreal, virtuell wirken lässt.
Eine Reihe von Pflastersteinen, drei mal elf und eine halbe, links und rechts umrahmt vom Grün eines Wiesenstreifens und einigen vom Spätnachmittagsregen zu Boden gebrachten Blättern eines jungen Bergahornbaums,
führt in die „Hintergartengasse“, die ich, obwohl seit vier Jahren hier lebend, noch nie betreten habe. Eine stark befahrene Hauptstraße überquerend, blicke ich zurück und sehe die glatte Rinde einer mir unbekannten Birkenart und die schlanke Gestalt des Baumes, den sie beschützt. Ein Motorrad, dessen handbeschrifteter Drehzahlmesser „Beats per Minute“ statt „Umdrehungen pro Minute“ zeigt, gelb. Handymasten auf dem Eternitdach eines Gemeindebaus aus den Fünfzigern. Ein Garten mit einem kleinen Leiterwagenmodell, darauf drei Gartenzwerge mit grotesken Gesichtern, darunter verstreut drei weitere, die Wind und Regen ins Gras geworfen haben. Ein mitten auf dem Gehsteig vergessener regennasser Einkaufswagen.
Der Wind, viel wärmer als die herbstliche Szene erwarten ließe.
Eine Trauerweide mit einem eifrig zirpenden Singvogel darin, der verstummt, als ich mich nähere. Schlanke Äste schwingen im Takt des Windes und lange Blätter schmiegen sich in die Melodie des Abendlichts.
Letzte Regentropfen verirren sich von fernen Wolken unter das Blätterdach der Weide und verfließen langsam in der Stille des Lichts, das sie, kaum den Boden erreicht, reflektieren.
Die Frage eines Jugendlichen bricht, verwirrt, zerrückt das Empfinden und macht das Du unerwartet bewusst.
Eine Pappel, wie ein Leuchtturm aus Holz und Laub, im Wind. Zwei Pferde aus Stein, das eine mit gestrecktem Hals die Wolken fordernd, das andere mit gespreizten Beinen den Boden erforschend.
Sommerwind, stark.
Licht. Dunkles Blassrosa, durchsetzt von strukturiertem Grau, in melancholisch tiefes Blaugrau zerfließend, luftgetragen.
Innehalten.


Ein Vorrangstraßenschild direkt über einer Halteverbotstafel montiert.
Ohne Halten rasch weiter;
müssen.
Ein unbekannter Baum mit dickem Stamm, wohl 200 Jahre alt.
Sensibel, Sinne offen, hören...
Der vor einer Viertelstunde weggeworfene Kaugummi schmeckt nach.
Suche,
das Gefühl, hier etwas Besonderes finden zu können.
Die zentimetergroßen Regentropfen am Boden erinnern an die Geschichte eines alten Astronomieprofessors, der eines Tages begann, auf Fotografien des Nachthimmels Sternenkreise zu sehen und verschiedene Theorien für ihre Erklärung entwickelte. Auch die Regentropfen bilden, wenn es nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele sind, Tropfenkreise, und das haben die Kollegen des alten Astronomieprofessors auch gesagt, aber ihn hat das nicht gekümmert, denn hinter den Sternenkreisen, da müsse ein ganz bestimmtes, ein noch geheimes Naturgesetz stehen.
Und die Tropfenkreise verdunsten und wenden sich wieder ihrem Ursprung, den Wolken, zu.
Und wieder Wind.


 

  Der Schritt
über die nächste Stufe
erfolgt mit Schmerzen,
die, langsam anschwellend,
einem vertrauten Zyklus folgend
ihren Höhepunkt mit einem ohnmächtigen Stechen signalisieren,
um dann
allmählich nur
ihre Last wieder von mir zu nehmen.
Die innere Mechanik fordert, gleich
nachdem die Schärfe des Schmerzes verstummt ist,
den nächsten Schritt auf einem Band
ohne Ende.

 

  Gott, bin ich heute faul.
Uaaahhhhhh...
Da will also jemand, dass ich,
ja ich,
arbeite,
also Arbeit, also Kraft mal Weg
verrichte.
Erstens Kraft, und dann auch noch Weg,
und das auch noch multipliziert.
Also nein, nicht mit mir,
und schon gar nicht bei 28 Grad,
leichtem Wind und Wattewölkchen.
Vielleicht später.


Vielleicht...
 

  Das schemenhafte Abbild
einer schlanken Frauengestalt
spiegelt sich in der Verglasung
von Joan Miros "Malerei in Blau".
Die Tiefe des Bildes verlagert den Blick
in eine Art Zwischenwelt,
wo ein Teil der Besucher
des umgebenden Ausstellungsraumes
mit der Fantasie des Künstlers
und der Wirklichkeit des Betrachters
zu etwas Neuem verschmelzen.
Dort ist Stille
und Klarheit,
und alle Bewegungen gleichen
der Erhabenheit
erfüllter Träume.
Ein Punkt,
ein kleiner bunter Punkt
im undurchdringlichen Blau
lenkt den Blick aus der Zwischenwelt
zurück in den Raum
des Betrachters und lässt
die Zeit wieder fließen.
 

  Vormals schmusebedürftiger Kater,
rot,
jetzt faul.
Ich auch.



Ein sehr schmusebedürftiger Kater,
rot,
hat kein Verständnis für mein Schreibbedürfnis


und streicht seinen pelzigen Kopf abwechselnd
über meine Hände und die Tasten,
die sie zu drücken versuchen.
Das sieht dann so aus:
Dieeeeeeeeeeekkkoö,asojf, wwwwwww#
ädquuuuuuuuuuuuuu
vnkkkkkkkkkkkdddrrrrrrrrrrrrrr
ooooooooooowssssssss
 

  Yahoo-Weather forecast
für Budweis/Umgebung:
Tomorrow: Thunderstorms
Sunday: Showers
Monday: Rain
Tuesday: Rain

Grummelmurmelgrummel.
Die Eskimos kennen so an die
30 verschiedene Worte für Schnee.
Mir fallen so an die 100 für Regen ein.
Und darunter sind wenig schöne.
Murmelgrummelmurmel...



 

 Frühlingssturmnacht

Riesen schreiten auf dem Blechdach
über mir,
donnernde Traumräuber,
raubende Traumdonnerer.
Nur Wind, nein
Sturm,
unbeherrscht, warm,
alles erfüllend,
nimmt die Stadt in Besitz.
Am Fenster,
Baum, Ast und Blüte,
luftliebkost.
Ein Haus, halbfertig,
ohne Fenster und Türen,
wird zur Orgel
und singt, spricht?,
was der Sturm erzählt.
Tausend Düfte
tanzen
durch die Straßen
und
ich tanze mit.
 

  Wenn ich 65 bin.
Werde ich mich
vierhundertfünfzigmal
schuldbewusst
geärgert haben,
dass ich im Frühling
immer nur vorbeifahre;
schnell schnell
noch die nächste grüne Ampel erreichen;
nur ein ganz kurzer, hektischer,
sehnsüchtiger Blick
auf den schönsten Magnolienbaum der Welt.
Statt einfach stehen zu bleiben,
Hallo zu sagen,
zu rasten, zu sehen, zu riechen,
und ein bisschen,
ganz wenig nur,
Baum zu sein.
 

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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