Samstag, 28. Dezember 2002

  Soeben war ich Zeuge, wie zwei Blätter eines in durchaus nennenswerter Entfernung vom geöffneten Bürofenster liegenden Geschäftsbriefes den Mut gefasst haben, eine lange, ungewöhnliche und zudem ungewisse Reise anzutreten, von der sie wahrscheinlich nicht wieder zurückkehren werden.


Die Verirrung eines vom Fensterseitenteil abgelenkten Luftstroms - ein Stück Wind, der das außen verspiegelte Innere des meinen Alltag bestimmenden Gebäudes erforschen wollte - senkte den Luftdruck über ihnen gerade lange genug ab, damit sie sich aus ihrer schicksalsbestimmten Lagerordnung erheben konnten, um den Wind auf seiner kurzen Büroinspektion zu begleiten und dann - gewissermaßen per Anhalter - ein Stück von ihm mitgenommen zu werden, lange genug, um dank ihm den Weg zum Fenster, und hinaus, in die Welt zu finden.
Meine Nachschau blieb erfolglos.
Möge ihre Reise niemals enden.
 

  Wieder Sehnsucht.
Schön.
 

 14:44:44

Aus irgend einem Grund schaue ich heute zum ersten Mal auf die kleine Uhr am rechten Bildschirmrand und sehe dort die seltsame Zahl 14:44:44. Genau in diesem Moment drückt jemand, der gerade am Schaltpult des Universums sitzt, auf den Zeitlupenknopf.
Ich starre also unbewegt auf diese Zahl und warte, dass der Sekundenzähler weiter springt.
Aber er springt nicht.
14:44:44.
Die Zeit steht, und plötzlich fließen alle – wirklich alle – innerhalb dieser Sekunde geschehenden und zu unendlicher Langsamkeit geronnenen Ereignisse durch mein Bewusstsein, das scheinbar als einziges von der Zeitlupe ausgenommen ist.
Und dieses Verharren nimmt kein Ende, als wäre der Fluss zwischen Vergangenheit und Zukunft unterbrochen und alles ist nur mehr reine Gegenwart.
Bis ich mich von dieser Zahl losreiße und noch einmal dort hin schaue:
14:44:45.
Und die Zeit fließt wieder.

 

  Es ist vielleicht die wichtigste Aufgabe unserer gegenwärtigen Zivilisation, aus Informationen Wissen zu machen und dieses Wissen weise zu verwenden.
 

  Die Bitterkeit des unteren Endes
der Nahrungskette tritt in mein Bewusstsein,
während sich ein in Plastik verschweißtes Tripel
von in ihrem eigenen Saft
schwimmenden Rind/Schwein-Frankfurtern
in meiner Mikrowelle
auf sein kurz bevor stehendes
Ende vorbereitet.


 

  Dieser Tag begann mit der ebenso plötzlichen
wie tiefgreifenden Erkenntnis,
dass Reinkarnationsgläubige grundsätzlich damit rechnen müssen,
auch als Zahnpastatube wiedergeboren werden zu können.

Glückliche, die in die Hände eines Vertreters
der seltenen Spezies der
Zweimaltäglichzähneputzer gelangen,
leiden nur relativ kurz
und haben schon bald wieder die Chance
auf eine neue Wiedergeburt.

Zum Beispiel als Zahnputzbecher.
Oder als Auswurftaste eines CD-Laufwerks.
Unsere Zivilisation bietet viele Möglichkeiten.

Weniger Glückliche landen in meinem Badezimmer.
Und müssen sich mit dem Martyrium
eines nie enden wollenden Zustands
des Teilausgedrücktseins abfinden.
Zeig mir deine Tube
und ich sage dir, wer du bist.


 

  Windgebrochene Stille,
wache, in die Weite lauschende Erwartung,
ewiger Moment.

 

  Langsam entweicht die Kälte der herannahenden
Allerheiligennacht dem hinter mir
liegenden Waldrand und zeugt vom Schwinden
dieses viel zu warmen Oktobers.
Gelbes Licht
taucht die Welt in ein Bild
aus stillen Farben und erinnert an die
Endgültigkeit des Herbstes.
Ein Hügel, dessen Oberfläche vom Goldbraun
der ihn bedeckenden Buchen bestimmt ist,
gezeichnet von allen Schattierungen
zwischen Erdbraun und Dunkelgelb,
weist den Weg zum noch hellblauen
Horizont.
Wolken, wie riesige Walskelette,
fließen der untergehenden Sonne
entgegen, als hätte das Ende
dieses Tages ein vorbestimmtes,
ein unausweichliches Ziel,
das alle kennen, außer ich selbst.
Als Zuschauer eines nicht verstandenen
Schauspiels warte ich, bis
die Walskelette mit dem Horizont
verschmelzen und Dunkelheit
von der Welt Besitz ergreift.

 

  Diffuses Licht über dunkelgrünem Herbstgras,
ein Weg, der sich sanft an einen Hügel schmiegt,
und der am Horizont liegende Rand
eines vom Oktobernebel
halb verhangenen Fichtenwaldes,
verschmelzen zu einem Bild
aus Unvergänglichkeit und Ruhe.
Die flache Hand auf dem feuchten Gras
fühlt
Benetzung und Kälte,


Verbundenheit mit dem,
was der Boden der Luft entzogen hat,
und Nähe zur Stille
des ewigen Wandels der Elemente;
Feuer erhitzt Wasser und verdampft es
in die Luft, aus der es wieder zurück
in die Erde gebracht wird.
Eine Ahnung herannahender Kopfschmerzen
legt sich wie ein schwerer, schwarzer Stoff
über das Empfinden
und rückt den Blick wieder näher zum Ich.
Im Nebel ist alles Leiden dumpf.

 

 Gibts ja nicht!

Ich stolpere also über ein Inserat, das den Kauf des neuen Mens Health nahezulegen versucht, und halte dieses Heft nach dem Studium der Inhalts-Highlights zunächst für ein Satiremagazin.
Da steht wörtlich:
Arme wie Tarzan – das Helden-Workout:
Wann ist ein Mann ein Held? Wenn er immer mutig zupacken und seine Jane beschützen kann. Dieses Workout macht Sie so stark wie Tarzan.
Dicht gefolgt von:
Spermatest:
Sie haben alles versucht. Seit Wochen Sex, Sex, Sex. Aber sie wird nicht schwanger. Ist vielleicht mit Ihrem Sperma etwas nicht okay?

Und dann noch:
Multitasking beim Sex :
Wenn Sie einmal etwas anderes als Sex im Kopf haben, lassen Sie die Kleine einfach machen.
Das alles wird dann getoppt von:
Permanent-Make-up:
Sind Sie mit Ihrem Gesicht unzufrieden? Waschen Sie sich. Es gefällt Ihnen immer noch nicht? Probieren Sie’s mit Permanent-Make-up. Damit lassen sich...
Nein, es ist kein Satiremagazin.
Sondern ernst gemeint und überaus auflagenstark.
Da frag ich mich, ob sich Frauen auch so unendlich weit von Frauenmagazinen entfernt fühlen können, wie ich es als Mann von Mens Health bin.
Eigentlich kaum vorstellbar.

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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