Dienstag, 26. Dezember 2006

Der Blick auf das Kontrastarme

Es geht sich ja meistens aus. Meistens. Aber dieses Mal habe ich die Fahrzeit vom Hauseingang zur gerade noch grünen Ampel zu optimistisch geschätzt und es daher nicht geschafft, meine nachmittägliche Radtour mit einem raschen Sprint über meine erste Kreuzung des Tages zu beginnen.

Das hängt auch ein wenig damit zusammen, dass ich üblicherweise mein Fahrrad bei dem alten Holztor vorbeizwänge, es über den Gehsteig in eine Lücke zwischen zwei schräg parkenden Autos schiebe und dann einen Blick auf die zirka 50 Meter entfernte Ampel werfe. Je nachdem, in welchem Beleuchtungszustand sich diese befindet, lasse ich mir ein bisschen mehr oder weniger Zeit, um das Rad zu besteigen und dann mit einem kurzen Sprint über die Kreuzung zu flitzen, gerade so, dass sich das bei Grünlicht ausgeht, versteht sich.

Aber zu dieser Jahreszeit, wir schreiben den 26. Dezember, ziehe ich mir kurz vor der Abfahrt noch Haube und Handschuhe über, was zu einer Verzögerung führt, die den Ampel-Erreichungs-Zeitplan mit einer gewissen Unsicherheit belegt. Was ja noch nicht so schlimm wäre, denn schließlich findet meine Nachmittagsradtour des öfteren auch im Winter statt, wodurch diese Verzögerung längst Teil einer planbaren Routine ist.

Wäre da nicht dieses dezente, aber nicht zu überhörende Schleifgeräusch im Bereich des Hinterradkotflügels, das gerade ausreichend Nachdruck erzeugt, um es nicht zu ignorieren. Man kann ja nie wissen, was da so alles an wichtigen Bauteilen rapider Abnutzung unterliegt, nur weil es ob mangelnder Wartung irgendwo abgeschliffen wird. Ein paar untersuchende Blicke später zeigte sich der Verursacher des verdächtigen Schleifens in Gestalt eines zwischen der Kabelführung des Rücklichts, dem Kotflügel und dem Hinterreifen engeklemmten Ästchens, das fast genau so aussah wie das Rücklichtkabel selbst, weshalb ich erst nach einigem Herumstochern mit dem mangels professionellem Werkzeug verwendeten Wohnungsschlüssel die wichtigen von den schleifenden Teilen trennen und das Ästchen entfernen konnte.

All das hat mich irgendwie aus meiner Ampelphasenroutine bugsiert, weshalb ich sie zwar eingeschätzt, aber trotzdem gerade nicht mehr rechtzeitig erwischt habe.

Es ist, so finde ich, unumgänglich, diese wenig ereignisreiche Geschichte zu erzählen, ehe ich mich dem eigentlichen Grund widmen kann, der mich dazu gebracht hat, diese Zeilen zu schreiben. Denn vor dieser roten Ampel stehe ich nur sehr selten, und wenn, dann eher als Lenker oder Fahrgast eines motorisierten und daher von der Umgebung stärker abgeschirmten Fahrzeuges. Wissend, wie viel Zeit ungefähr vergeht, ehe diese Ampel wieder Grün zeigt, lasse ich den Blick wandern, beobachte zwei vorbei fahrende Autos, ein Werbeplakat und ganz beiläufig den grauen Asphalt unter mir.

Im Grau dieses Asphalts ist Bewegung. Gleichfalls grau, vielleicht etwas dunkler, sehr, sehr klein und gerade so, dass es aus meiner Höhe noch bemerkbar ist. Wenngleich mir nicht klar ist, warum ich es bemerke, denn in dieser Zeit zwischen Rot und Grün, ungastlichem Wetter und einer Vielzahl anderer, weitaus auffälligerer Objekte, hat dieses kleine, kontrastarme Etwas so gut wie keine Chance, bemerkt zu werden.

Es ist eine Fliege. Eine Stubenfliege auf dem Straßenasphalt. Am 26. Dezember. Es gab zwar heuer noch keinen Schnee, aber es ist ganz sicher zu kalt für Stubenfliegen. Und dieser Fliege ist kalt, sichtbar, denn sie fliegt nicht, sondern bewegt sich langsam krabbelnd in der Nähe des Fahrbahnrands. Genau dort, wo gleich ein Autobus mit seinen zahlreichen Breitreifen in die direkt neben mir gelegene Busstation rollen wird. Die Fliege ist so langsam und der gleich eintreffende Bus so nah, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sie von ihm überfahren wird. Gleich schaltet die Ampel auf Grün. Gleich. Was mache ich? Diese Fliege ist wie ein aufgrund des zu warmen Wetters zu früh geschlüpfter Irrtum, dazu verurteilt, entweder zu erfrieren oder von irgendjemand oder irgendetwas zerdrückt zu werden, weil sie kaum krabbeln, geschweige denn fliegen kann. Was mache ich?

Was ist das Besondere an dieser Fliege? Ich weiß es nicht, ahne es nur und steige vom Rad, stelle es auf den Gehsteig und lasse die Fliege auf meinen Handschuh krabbeln, bevor der Bus kommt. Aber was jetzt? Wie weit gehe ich mit der "geretteten" Fliege, wie hoch darf der Aufwand sein, dieses irgendwie nicht hierher gehörende Wesen zu erhalten, soll ich sie etwa mit in meine geheizte Wohnung nehmen und dort mit Nahrung versorgen? Nein, sicher nicht.

Sie soll nur einfach nicht so vom Bus überrollt werden, nur weil sie zu schwach, zu gelähmt von der Kälte ist. Jedenfalls nicht jetzt, wo ich gleich neben ihr stehe und die Wahl habe, diesen schwachen Kontrast, der ein Stück Leben ist, wahrzunehmen, oder einfach vorbeizufahren.

Also nehme ich dieses Kontrastarme wahr und beschäftige mich eine Minute lang mit ihm, setze es in einer geschützten Hausecke, wo niemand geht und wo es ein bisschen wärmer ist, ab, setze mich wieder auf mein Rad und warte noch einmal, bis das Licht wieder grün ist.

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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