Sonntag, 19. November 2006

Das Redaktionsschluss-Phänomen

"In Ordnung, ich liefere ihnen das dann bis 20.11."

Kaum ausgesprochen, bewirkt dieser Satz eine seit Jahrzehnten eintrainierte Ablage- und Alarmknopfprogrammierungs-Routine, die zur Folge hat, dass irgendein überaus effizient werkendes Unterprogramm meines Bewusstseins den tatsächlichen Aufwand des zu lieferenden Produkts abschätzt und die dafür erforderliche Zeit kalkuliert. Beide Daten werden sodann in ein Geflecht aus zu Erledigendem und den dazu gehörenden Abgabeterminen eingebaut. Sobald das geschehen ist - ein Vorgang, der nicht mehr als einige Sekunden in Anspruch nimmt - widme ich mich wieder den zahlreichen anderen Dingen, mit denen man das Leben so füllen kann.

Zum Beispiel schlafen. Oder Zeitung lesen. Auch das Aussuchen einer neuen DVD in einer nicht all zu weit entfernten Videothek ist eine angenehm kurzweilige Tätigkeit, impliziert sie doch die Vorfreude auf das Betrachten eines möglicherweise interessanten Spielfilms, was für einen Fernsehabstinenten ein Erlebnis ist, das sich heute nur mehr wenige Mitglieder der industrialisierten Gesellschaft vorstellen können.

Überhaupt ist ja der eigentliche Sinn des Fastens, also des bewussten Verzichts im Allgemeinen, die anschließende Verstärkung des Erlebens von Dingen, die man zuvor ob ihrer Selbstverständlichkeit gar nicht mehr richtig gespürt hat. Aber ich schweife ab.

Bemerkenswert an dieser Ablage- und Alarmknopfprogrammierungs-Routine ist der Umstand, dass sie gewissermaßen im Untergrund dauerhaft aktiv bleibt. Das Einschätzen des Aufwands, das fast unterbewusste Sammeln von für das zu liefernde Produkt relevanten Daten, sowie deren Verknüpfung, versetzen mich in die Lage, mit erstaunlicher Exaktheit jenen Zeitpunkt zu erfühlen, ab dem es dann wirklich an der Zeit ist, mit der aktiven Arbeit an diesem Produkt zu beginnen.

Dieser Zeitpunkt ist faktisch ausnahmslos der letztmögliche, ab dem es für mich noch machbar ist, das Produkt in der erforderlichen Qualität und natürlich absolut pünktlich abzuliefern.

Da dieses Verhalten vor allem im Verlagswesen häufig anzutreffen ist, nennt man es allgemein das Redaktionsschluss-Phänomen. Für mich bedeutet es, dass ich ich alle nötigen Energien zur optimalen Erfüllung eines Auftrags stets nur mit dem drohenden Abgabetermin vor Augen aufbringen kann. Aus psychologischer Sicht interessant ist, dass ich mich dabei absolut wohl fühle. Dumm wird es nur, wenn eine höhere Macht meinen sehr exakt definierten Zeitplan durcheinander würfelt. Aber da ich es bisher noch immer geschafft habe, sowohl den Termin als auch die geforderte Qualität einzuhalten, wird es wohl auch diesmal wieder klappen.

So, und jetzt habe ich gerade genug Zeit mit diesem Blogeintrag verheizt, um ihn mit noch knapperem Zeitlimit noch motivierter anzugehen, diesen Abgabetermin am 20.11.

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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