Sonntag, 27. Februar 2005

Schon erstaunlich,

wie sehr ein nunmehr bald sechs Jahre altes Computerspiel nach wie vor in der Lage ist, meine Aufmerksamkeit derart zu bannen, dass sich meine gesamte Existenz nur auf die vier Finger der linken Hand (für Cursor-, Strg- und Shift-Tasten), Handballen und Zeigefinger der rechten Hand (Maus, linke Maustaste und Scrollrad) und die Augen (bzw angesichts meiner so gut wie Halbblindheit "das Auge") beschränkt.

Um so mehr, als es sich dabei um "den" Egoshooter handelt, was mich als bekennenden Pazifisten schon in eine mittlere schizophrene Krise stürzen sollte. Eigentlich. Stattdessen genieße ich den in Bezug auf dieses Spiel millionenfach diskutierten "flow" - also die bisher nirgendwo in der Computerspielewelt so perfekt umgesetzte Direktheit der Verlinkung des Systems Auge-Hirn-Hände - und sauge das dabei frei werdende Adrenalin unter sehr hohem Puls auf eine Art durch meinen Metabolismus, wie ich das sonst nur von einer bestimmten Art des Motorradfahrens kenne.

Ein hoch interessantes Gefühl, übrigens, das mir nur sehr selten und in ganz bestimmten Situationen wahrnehmbar ist. Geschwindigkeit spielt dabei zweifellos eine wesentliche Rolle, wiewohl es dabei keineswegs auf Kilometer pro Stunde, sondern eher um das Verhältnis von zu verarbeitenden mit erfolgreich bearbeiteten Sinneseindrücken ankommt, wobei beide Zahlen möglichst hoch und das Verhältnis möglichst nahe 1 sein sollte.

Ist das der Fall, stehen die Chancen gut, einen Gefühlszustand zu erlangen, den ich "im Fluss" nenne, dem berühmten "flow" von Quake III Arena nicht unähnlich.

Ein Zustand, der bei auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Tätigkeiten eintreten kann. Ich erinnere mich da etwa an eine Woche während meines Studiums, wo es darum ging, einen etwa Aktenkoffer großen Metallbehälter voller ca. 1x1 cm kleiner Glasplättchen, auf denen sich das Spektrum einer Nova im Sternbild des Füchschens befand, mit einem sehr großen, alten und umständlich zu bedienenden Gerät zu digitalisieren. Das Gerät füllte einen ganzen Raum und jedesmal, wenn ich eines von den hunderten Plättchen exakt auf ihm platziert hatte, musste ich den komplett verdunkelten Raum verlassen, die Tür schließen und alles Weitere mit dem Computer im Nebenraum steuern. Dann musste das so digitalisierte Spektrum gespeichert werden (auf Band), ehe das nächste Glasplättchen an die Reihe kam. Routine mit hohem Aufmerksamkeitswert also.

Eine Stunde pro Plättchen war einzuplanen, und das Gesamtprojekt "Kofferdigitalisierung" war für einen ziemlich langen Zeitraum konzipiert. Schließlich war das Teil meiner damaligen Diplomarbeit. So nach dem zehnten Plättchen war ich aber "im Fluss", jede Bewegung, jeder Tastendruck lief im perfekten Timing und ich konnte mir damals überhaupt nichts Besseres vorstellen als zwischen diesen tageslichtlosen Räumen hin und her zu eilen und ein Spektrum nach dem anderen in den Computer zu pflanzen.

Deshalb habe ich erst wieder damit aufgehört, als ich mit dem Koffer durch war, unterbrochen nur von wenig Schlaf und kurzen Essenspausen, in denen die Maschine gerade mit sich selbst beschäftigt war. War eine gute Zeit damals, auch wenn ich diese Diplomarbeit später wegen einer anderen aufgegeben habe.

Ja, und dann gibt es natürlich noch Tätigkeiten, wie das Bewegen einer bestimmten Sorte von Motorrädern unter noch viel bestimmteren Bedingungen. Dazu zählt etwa ein gar nicht so leichtes und auch gar nicht so starkes Exemplar, das ich vor Jahren zu lenken pflegte. Ein potthässliches Stück Zweirad mit übergroßem Tank und fast schon peinlicher Lackierung, in das ich aber damals mein gesamtes Hab und Gut investiert hatte. Nun bin ich ja trotz der wirklich überintensiven Beschäftigung mit Fahrzeugen dieser Art geradezu die Negation eines Motorradfans, also jenes Typus Mensch, der sich voll und ganz mit seinem Blechgefährt identifiziert, es hegt und pflegt und putzt und liebkost, auf dass es ihm wohl gesonnen bleibe. Nein, meine Motorräder waren mit einer Ausnahme immer Nutzfahrzeuge, mit denen ich möglichst effizient von A nach B kommen wollte, ohne dabei zu wenig Spaß zu haben, natürlich. Dementsprechend waren diese Dinger meist ungewaschen, leicht angekratzt, extrem schlecht gewartet und vier Monate des Jahres mit abgelaufenem Pickerl unterwegs. Ein Spiegel meiner selbst eben. Damals jedenfalls.

Und doch kam es vor, dass sich das eine oder andere Exemplar als erstaunlich wirkungsvolles Instrument zur Erreichung des "im Fluss" heraus stellte. Etwa jenes gar nicht so leichte und gar nicht so starke Fahrzeug, das sich auf einer Straße, die eine Durchschnittsgeschwindigkeit von vielleicht 60 oder 70 km/h erlaubt, als das perfekte Bindeglied zwischen Bewusstsein, Körper und Fahrbahn zeigte.

Es gibt da diese Geschichte, die W.A. Mozart angeblich erzählt hat, als man ihn dazu befragte, welchen "Trick" er beim Komponieren anwendet. Natürlich hatte er keinen Trick, aber er sprach davon, dass er auch komplexeste Kompositionen für ganze Orchester vollständig im Kopf haben und "überhören", im Sinne der Audio-Entsprechung von "überblicken", können - und das alles gleichzeitig.

Damals, auf dieser sehr engen, kurvenreichen und gut asphaltierten Straße, hatte ich das Gefühl, den gesamten Verlauf der Strecke bis auf den letzten Millimeter als Ganzes im Kopf zu haben und die Einheit aus mir und meinem Fahrzeug auf sehr faszinierende Art damit verschmolzen war.

Das klingt natürlich alles sehr gefährlich, und aus objektiver Sicht ist es das wahrscheinlich auch. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich dieses "im Fluss" ausgerechnet beim Fallschirmspringen noch nie empfunden habe. Dort hat das Aufrechterhalten einer sehr intellektuell bestimmten Aufmerksamkeit auch nach vielen hundert Sprüngen noch immer so starke Priorität, dass ich von der für die Zulässigkeit dieses Gefühls erforderlichen sicheren Routine offenbar noch immer weit entfernt bin.

Da fällt es mir schon wesentlich leichter, zusammen mit 15 anderen Motorradfahrern an einer Startlinie zu stehen, die Flagge des Startkommandos anzustarren und zu wissen, dass wir in ein paar Sekunden allesamt wie vom Teufel getrieben auf eine 150 Meter entfernte Kurve zu jagen werden, die so eng ist, dass definitiv nur einer von 16 gleichzeitg durch passt. Und jeder will dieser Eine sein. Garantiert.

Quake III ist da zumindest in erster Näherung zweifellos gesünder. Und wenn sich ein gutes Team bei einer Online-Capture-the-Flag Partie gegen ein etwa gleich gutes einfindet, gibt es den "flow" sogar als Gruppenerfahrung...

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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