Samstag, 21. Mai 2005

Warum ich Wikipedia mehr fürchte als die Atombombe

Gedanken zu den möglichen Folgen einer Shake&Paste-Informationsgesellschaft und dem Anteil, den Systeme wie Wikipedia daran schon heute haben könnten.

Realität zwischen Glaube und Experiment Die immerhin rund 400 Jahre lang andauernde Kontroverse zwischen Naturwissenschaft und Glaube wurde von Papst Johannes Paul II. zwar erst vor wenigen Jahren, aber dafür um so offizieller beendet. Die Rehabilitierung Galileo Galileis darf in ihrer gesellschaftspolitischen Tragweite noch weit höher eingestuft werden als etwa das 2. Vatikanische Konzil, weil sie als symbolischer Akt für die Auflösung der zuvor eindeutigen Grenze zwischen der Sicherheit naturwissenschaftlicher Gesetze und der Wahrheit des Glaubens steht.

Seit der Rehabilitierung Galileis fallen auch nach Ansicht des Vatikans Steine nicht nur deshalb von oben nach unten, weil das Gottes Wille ist, sondern zumindest auch weil wir auf einer kugelförmigen Masse leben, die alle Gegenstände radial zu ihrem Zentrum hin anzieht. Noch klarer verlaufen Erklärungsvorgänge dieser Art heute in der säkularisierten Welt: Wollen wir genau wissen, wie ein Stein nach unten fällt, schlagen wir nicht mehr in der Bibel nach, sondern in einem Lehrbuch über Allgemeine Relativitätstheorie, oder - wenn es nicht ganz so genau sein muss - in Newtons Principia Mathematica.

Entscheidend dabei ist: Auch der Vatikan macht das heute so, und nicht nur irgendwelche aufgeklärten Universitätsprofessoren und deren Schüler.

Naturwissenschaftliche Erkenntnis als allein glückselig machende Wahrheit? Gut, was ist daran im 21. Jahrhundert so ungewöhnlich, könnte man fragen. Zumindest die industrialisierte Welt ist seit Jahrhunderten im wissenschaftlichen Sinn aufgeklärt, unsere Lehr- und Studienpläne quellen über vor naturwissenschaftlichem Denken und die vollständige Durchdringung unseres Alltags mit Technik aller Art erfordert geradezu ein Denkmuster, das der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode weit näher ist als der des klassischen Glaubens.

Religion und Glaube werden in unserer Gesellschaft zwar geachtet und erst recht toleriert (als wesentliches Merkmal einer modernen Gesellschaftsstruktur), sind aber Privatsache und bilden bei der täglichen Entscheidungsfindung oder für die Erklärung von Phänomenen aller Art zumindest keine offiziell anerkannte Rolle.

Der Abschied von Gott und Geistern Ein Beispiel: Nach einer Naturkatastrophe wie dem Tsunami vom 26.12.2004 finden sich in den Medien zahllose Spezialisten als Interviewpartner für Nachrichtensendungen und Talkshows, es werden dutzendweise Dokumentationen über die Hintergründe der Entstehung von Flutwellen gezeigt, aber man wird nie eine ernsthafte Sendung oder auch nur ein Statement zum Thema sehen, die das Ereignis als "Strafe Gottes" behandeln.

Zumindest die Massenmedien akzeptieren also ganz selbstverständlich eine naturwissenschaftliche Erklärung für diese Katastrophe als den einzig relevanten Weg, um sich damit in Bezug auf ihre Ursachen und ihre nähere Beschreibung auseinander zu setzen. Nichts liegt daher näher, als davon auszugehen, dass der Glaube als Mittel zur Beschreibung und zum Verständnis der Welt zumindest in der industrialisierten Welt obsolet geworden ist und man als moderner Mensch sogar den Segen des Papstes gewissermaßen gratis dazu bekommt – Galilei sei Dank.

Das Kreuz mit dem Experiment Das zentrale Element der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode ist das Experiment. Der Weg, durch gezielte „Fragen an die Natur“ meist mathematisch formulierte Theorien zu entwickeln, die eine möglichst allgemeine Beschreibung und vor allem auch Vorhersage der Vorgänge innerhalb dieses Experiments ermöglichen, unterscheidet die Naturwissenschaft streng vom Glauben und seiner Art, Beobachtungen und Vorgänge in der Natur zu beschreiben, zu interpretieren und vorher zu sagen. Leider sind sauber durchgeführte Experimente ebenso wie die Anwendung der aus ihnen folgenden Theorien eine komplizierte Angelegenheit. Tatsächlich ist es sogar ausgesprochen mühsam, und es bedarf einer sehr wachen Aufmerksamkeit, dem Weg der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode ohne Abkürzungen konsequent zu folgen. Bei näherer Betrachtung ist dieser Weg sogar noch schwieriger und entbehrungsreicher als der eines bedingungslos gelebten Glaubens, weil er weder Ausnahmen gestattet noch irgendwelche Fehler verzeiht.

Naturwissenschaft kennt keine Gnade Angenommen Sie lügen, obwohl Ihr Glaube das eigentlich verbietet. Als Christ hätten Sie sich in diesem Fall zwar versündigt, aber falls Sie ihr Vergehen ehrlich bereuen und es anschließend beichten, wird Ihnen vergeben werden. Nehmen wir hingegen an, Sie stehen am Rand eines tiefen Abgrunds und Sie beschließen sich ab sofort nicht mehr an das Gravitationsgesetz zu halten. Springen Sie dann einfach los, wird Ihnen das Gravitationsgesetz zweifellos nicht verzeihen, ganz unabhängig davon, wie sehr Sie Ihren Entschluss während Ihres Sturzes bereuen.

Damit kommen wir zum eigentlichen Problem, das lautet: Obwohl nahezu alle Leser das obige Beispiel als in der Realität zutreffend anerkennen werden, existiert mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ein einziger, der sein alltägliches Verhalten zu 100 Prozent daran ausrichtet. Das heißt, als aufgeklärte Angehörige einer technisch geprägten Zivilisation meinen wir zwar, in einer Welt des Erklärbaren (oder sogar weitgehend bereits Erklärten) zu leben und unsere Wahrheiten daher nicht auf die Aussagen von Propheten, Heiligen oder dogmatischen Büchern zu begründen, neigen aber trotzdem dazu, unsere Erkenntnisse kaum anders zu beziehen als die Menschen des Mittelalters.

Genauer: wir glauben, was wir in von uns als glaubenswert eingestuften Büchern lesen, und wir glauben, was uns Menschen erzählen, die wir als ausreichend glaubwürdig einschätzen. „Glauben“ heißt in diesem Zusammenhang, eine Aussage für real zutreffend zu halten, ohne sie einer weiteren Überprüfung zu unterziehen. Selbst wenn eine solche Überprüfung stattfindet, wird sie nur in den seltensten Fällen auf einer direkten Quellenrecherche beruhen, sondern durch das Hinzuziehen anderer Bücher (Medien) oder glaubwürdiger Personen geschehen.

Die Subjektivität des Prüfens Gerade bei der Überprüfung einer Aussage durch das Einbeziehen weiterer, vom Prüfer als glaubwürdig eingestuften Medien oder Personen kommt ein psychologischer Effekt zum Tragen, der vor kurzem in mehreren Großversuchen näher erforscht wurde. Diese Versuche ergaben, dass Menschen bei der Überprüfung einer von ihnen zunächst als real eingestuften Aussage unbewusst ein Auswahlverfahren anwenden, das sie primär jene Überprüfungsmöglichkeiten wahrnehmen lässt, die ihre ursprüngliche Meinung unterstützen. „Wahrnehmen“ heißt, dass die untersuchten Personen zwar auch solche Medien konsumierten, die in Widerspruch zu ihrer Meinung standen, diese aber zu einem weit geringeren Prozentsatz in Erinnerung behielten, als die ihre Meinung unterstützenden Medien.

Von einem objektiven, also vom Beobachter unabhängigen Experiment ist diese Art, Behauptungen auf ihren Realitätsgehalt hin zu prüfen, nicht nur weit entfernt, sondern hat so gut wie nichts damit gemeinsam. Trotzdem ist unser Bild von dem was wir für real erachten weitgehend von nicht experimentell ermittelten Erkenntnissen geprägt.

Durch die Vielfalt uns zur Verfügung stehender Medien, deren Inhalte sich zu gleich lautenden Themen oft deutlich unterscheiden, sind wir zwar in Bezug auf den Realitätsgehalt von über Massenmedien verbreiteten Inhalten kritischer geworden, haben aber gleichzeitig einen Filter eingeführt, mit dem wir die Glaubwürdigkeit eines Mediums nach einer individuellen Skala bewerten. So wird etwa traditionellen Tageszeitungen tendenziell mehr Glauben geschenkt als bunten Boulevardblättern und den Nachrichtensendungen öffentlich-rechtlicher TV-Sender mehr Seriosität zugetraut als rein werbefinanzierten Privatsendern.

Moderne Bibeln und die Wiedergeburt der Scholastik Und dann gibt es noch die über jeden Zweifel erhabenen Standardwerke, die man zu Rate zieht, wenn es um die Definition von Begriffen oder die Darstellung von nicht widerlegbarem Tatsachenmaterial geht. Diesen Standard genießen beispielsweise seit Jahrzehnten gut eingeführte Lexika oder die Werke der Duden-Redaktion. Zunehmend zählen auch Online-Lexika zu diesem Kreis, von denen WIKIPEDIA sich nicht nur durch seine exponentiell steigende Beliebtheit, sondern vor allem wegen des revolutionären Ansatzes zur Gewinnung und Pflege der Inhalte besonders hervor hebt.

Das Prinzip von Wikipedia folgt dem Ideal einer sich selbst lehrenden Gesellschaft, wo jeder sein Wissen allen anderen kostenlos zur Verfügung stellt. Der Traum von der Bündelung des gesamten Wissens der Menschheit unter einer einheitlichen, weltweit für jeden Interessenten gratis verfügbaren Plattform wird dadurch zumindest grundsätzlich realisierbar. Wikipedia geht dabei so weit, dass nicht nur jeder sein Wissen ohne vorherige redaktionelle Bearbeitung (oder Zensur) auf Knopfdruck veröffentlichen, sondern auch problemlos die Publikationen anderer verändern oder löschen kann. Statt einer Verlagsredaktion mit einer mehr oder weniger überschaubaren Anzahl von für den Inhalt verantwortlichen Redakteuren setzt dieses System auf die Selbstkontrolle einer wachen und verantwortungsvoll agierenden Gemeinschaft idealistisch gesinnter Nutzer.

Nun wird jeder Benutzer eines Computers, der schon einmal mit einem Virus zu tun hatte, bei der Kombination des Wortes „Selbstkontrolle“ mit den Zusätzen „wach, verantwortungsvoll“ und „idealistisch“ ein instinktives Misstrauen gegen ein System hegen, dessen Glaubwürdigkeit genau darauf – und nur darauf – beruht. Das Gegenteil ist der Fall. Wikipedia ist nicht nur unter Schülern und Studenten, sondern auch bei Lehrern und Journalisten eine außerordentlich beliebte und dem entsprechend intensiv genutzte Quelle für Informationen aller Art, deren Realitätsgehalt infolge des lexikalen Charakters dieses Mediums für die meisten Nutzer kaum hinterfragungswürdig zu sein scheint. Wikipedia wird daher vor allem im Web mit stark zunehmender Häufigkeit als Referenz samt zugehörigem Link zum entsprechenden Eintrag zitiert und in unzähligen Fragen als das entscheidende Kriterium für den Wahrheitsgehalt von Aussagen betrachtet. Situationen, in denen ein Schüler seinen Lehrer mit den Worten zurecht weist „Aber auf Wikipedia steht das ganz anders als sie es uns erzählt haben“, dürften damit zunehmend zum Alltag gehören.

Für die mit Abstand meisten Benutzer dieses System liegt der Anreiz zweifellos in seiner einfachen und kostenlosen Verfügbarkeit sowie der nonkonformen Frische und Modernität samt zugehörigem Coolness-Faktor. Jeder kann mit machen und das darin enthaltene Wissen stammt zumindest nicht nur von angestaubten Germanistikprofessoren, deren Schreibstil in etwa so modern ist wie ihre weißen Bärte.

Nun ja, das stimmt ja schließlich auch alles so. Aber nur weil im Prinzip jeder mit machen kann, heißt das noch lange nicht, dass auch jeder mit macht. Und falls doch, wäre das überhaupt im Sinne der Qualität des gebotenen Wissens? Wer sind eigentlich diese Leute, die dabei mit machen, und kann man denen überhaupt trauen? Offensichtlich kann man. Zumindest hält eine Millionenschaft begeisterter Nutzer die Inhalte von Wikipedia für ausreichend vertrauenswürdig, um sie an anderer Stelle zu zitieren, ihr persönliches Wissen damit zu erweitern und andere Menschen an diesem Wissen durch Erzählungen teil haben zu lassen. Genau so, wie mit den Inhalten eines Lexikons schon immer verfahren wurde: was in der Zeitung steht, kann fehlerhaft sein, aber was im Lexikon steht, ist wahr.

Dynamische Neuschreibung der Geschichte in Echtzeit? „Wie praktisch“, dachten sich da wohl einige Freunde eines Spitzenkandidaten bei deutschen Regionalwahlen, „wenn das so ist, können wir ja gleich einige Fakten über unseren Kandidaten auf Wikipedia richtig stellen“. Was auch flugs geschah. Nur, dass die Freunde des Gegenkandidaten dieses Politikers eben diese Richtigstellungen doch lieber unter einem etwas anderen Blickwinkel gezeigt sehen wollten. Auch das geschah binnen weniger Minuten, wodurch der Wikipedia-Eintrag zu besagtem Politiker binnen 15 Minuten vier Mal geändert wurde. Natürlich spielten sich die Veränderungen lediglich in subtilen Details ab, die den meisten Lesern wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wären. Anders wäre die Veränderung eines Wikipedia-Artikels jedoch auch im normalen Alltag dieses Systems nicht von langer Dauer. Wird etwa eine Person mit plumpen Beschimpfungen belegt, wird diese Art der Änderung rasch auffallen und von einem korrekter beseelten Wikipedia-Schreiber sehr wahrscheinlich rückkorrigiert. Geschehen Änderungen hingegen in einer vergleichsweise unauffälligen Form, indem etwa einzelne Sätze innerhalb eines langen Artikels ersetzt oder nur umgestellt werden, wird die Veränderung lange Zeit nicht auffallen.

Nun stellt sich die Frage, wie lange eine dezent zurecht gebogene Beschreibung einer Tatsache oder Person nicht auffallen muss, um letztendlich so oft zitiert und tradiert worden zu sein, bis sie selbst in den Rang einer allgemein anerkannten Tatsache aufsteigt und damit zur Wahrheit wird. Durch die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung über das Web ist diese Latenzzeit jedenfalls weitaus kürzer als bei gedruckten Lexika.

Die Verschwörung der Unwissenheit Die Vorstellung eines geheim agierenden Netzwerks subversiver Geschichtsfälscher ist im Zusammenhang mit Wikipedia zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Ein weit größeres Problem ist die Entstehung eines dynamischen Systems idealistisch gesinnter Halbwissender, die ihre Informationen vor der Veröffentlichung nicht ausreichend geprüft haben. Der allgemein wachsende Trend zu einem Shake&Paste-Wissen, bei dem Teile verschiedener (Web-)Publikationen nach Belieben zu einem neuen Konstrukt verwoben werden, würde seine negativen Folgen noch dramatisch verschlimmern, wenn dieses Wissen anschließend in einem Medium wie Wikipedia veröffentlicht werden würde.

So lange es einen ausreichend großen und vor allem aktiven Pool von Wikipedia-Nutzern mit einem soliden, auf Experimenten oder Direktrecherche beruhenden Wissenstand gibt, dürfte sich das Problem in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Der Haken an dieser Überlegung ist die Tatsache, dass Shake&Paste-Wissen ganz erheblich einfacher zu beschaffen ist als wirklich solide Grundlageninformationen. Und Menschen mit einem hohen Mitteilungsbedürfnis können mit Shake&Paste erheblich mehr und rascher mitteilen als wenn sie jedes Mal Grundlagenrecherche und Experimente durchführen. Das Erwerben objektiver Informationen, die jeder Überprüfung stand halten, war schon immer ein mühseliges Geschäft. Wenn das Prinzip vom kleinsten Widerstand auch für die Beschaffung von Information gilt, könnten wir daher zumindest aus historischer Sicht kurz vor dem Niedergang der objektiven Information stehen.

Ein ewiger Kampf der Kopie gegen die Kopie? Was tun? Lässt sich überhaupt irgendetwas tun, außer einen Kampf mit ungewissem Ausgang zu beginnen, „Objektive“ gegen „Shake&Paste“? Wahr ist, was die große Mehrheit einer Gruppe, innerhalb derer diese Wahrheit relevant ist, für wahr hält. Daran dürfte sich auch in Zukunft nicht viel ändern. Wahrheit (nicht zu verwechseln mit Realität) ist daher per Definitionem formbar, in welche Richtung, bestimmen allein jene, die an diesem Formungsprozess teilnehmen. Wer nur kopiert, über den wird die Wahrheit der Anderen siegen.

 
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Aktualisiert: 07.04.20, 11:16
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